Dem Vater eines zwei Monate alten Säuglings wurde vorgeworfen, ein Schütteltrauma verursacht zu haben, da Krämpfe, Retinablutungen und schmale Subduralhämatome erfasst wurden. Zusätzlich hätten axonale zerebrale Schäden vorgelegen.
Im Rahmen der gutachterlichen Würdigung aller verfügbaren Unterlagen fanden sich folgende ergänzenden Befunde:
Wenige Stunden vor dem akuten Ereignis im Sinne einer hypoton-hyporesponsiven Episode (HHE) erfolgte bei bereits länger bekannter Nabelinfektion mit vermehrten inguinalen Lymphknoten eine Mehrfachimpfung. Bei der Lumbalpunktion wurden im Liquor Knochenmarkzellen nachgewiesen, was auf eine iatrogene Knochen-Verletzung hinweist, die akut zu heftigen Schmerzen und heftigem Schreien des Kindes geführt haben dürfte. Im Schädel-CT fanden sich erst danach Hinweise für schmale Subduralhämatome. Reversible Retinablutungen und ein Faktor-XIII-Mangel wurden erst im weiteren Verlauf erfasst. Apnoen wurden zu keinem Zeitpunkt dokumentiert. Ein- oder mehrzeitige Knochenfrakturen lagen nicht vor. Der Vater des Kindes wird als ruhiger und geduldiger Altenpfleger beschrieben. Beide Eltern und die Großeltern sind gemeinsam kontinuierlich um das Kind bemüht, auch bereits vor dem akuten Ereignis.
Im vorliegenden Fall wird der Verdacht auf ein Schütteltrauma durch mehrere Merkmale nicht gestützt: Impfung bei Nabelinfektion mit inguinalen Lymphkonten, hypoton-hyporesponsive Episode (HHE), Faktor XIII-Mangel, Hinweise für knöcherne Verletzung eines Wirbelkörpers durch die Lumbalpunktion, keine Hinweise für das akute Auftreten von Apnoen, psychisch stabil wirkende und um das Kind bemühte Familie. Ein weiterer Gutachter kam ohne Kenntnis der Nabelinfektion zu dem Ergebnis, dass nach der Mehrfachimpfung ein HHE angenommen werden kann sowie dass die WHO-Kriterien für eine Impfkomplikation erfüllt wären. Axonale Schäden und reifungsbedingte altersphysiologische schwache Myelinisierung können mittels MRT im Alter von zwei Monaten nicht unterschieden werden.
Aus pädiatrisch-gutachterlicher Sicht waren die vorliegenden Befunde auch ohne Gewalteinwirkung plausibel.
Das Gericht urteilte auf Freispruch, da kein Vorsatz erkennbar war. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig wirksam, da die Staatsanwaltschaft Revision beantragte.
Fazit: Der Verdacht auf Kindesmisshandlung in Form eines Schütteltraumas zieht umfassende juristische und soziale Konsequenzen nach sich. Der Verdacht sollte erst geäußert werden, wenn die Anamnese und der zeitliche Ablauf im Detail analysiert wurden sowie nachdem in Bezug auf Retina- und Subduralblutungen alle bekannten Ursachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit differenzialdiagnostisch ausgeschlossen wurden. Apnoen stellen einen führenden Risikofaktor für ein Schütteltrauma dar, müssen aber ebenfalls differenzialdiagnostisch abgeklärt werden, da auch hier eine ganze Reihe anderer Ursachen in Betracht kommen können. Das Fehlen von Apnoen kann ein bedeutsamer Hinweis auf das Nichtvorliegen eines Schütteltrauma sein. Die Trias aus Retinablutung, Subduralhämatom und Enzephalopathie kann nicht als Beweis für Schütteltrauma gelten, solange diese Befunde nicht umfassend differenzialdiagnostisch abgeklärt worden sind. Bei einem zwei Monate alten Säugling können zerebrale axonale Schäden mittels MRT nicht von altersphysiologisch noch unzureichender Myelinisierung unterschieden werden, so dass diese Merkmale in dieser Altersgruppe nicht zur Einschätzung des Sachverhaltes beitragen können.
Ausführliche Darstellung mit Literaturhinweisen siehe: https://www.researchgate.net/publication/340438438_Apnoe_als_Pradiktor_fur_Schutteltrauma_ST )